DU aber bist ein barmherziger und gnädiger Gott,
langsam zum Zorn und gross an Güte und Wahrheit. (Psalm 86,15)
Sie ist da, bevor der Unterricht beginnt. Still steht sie im Raum, steht einfach da und schaut. Als ich eintrete, blickt sie freundlich auf und lächelt. Ich lächle zurück und spreche sie an. Die Antwort kommt zögernd, so als müsste jedes Wort wie ein Hühnerei sorgfältig aus dem warmen Nest in die Hand genommen werden, bevor es Sprache wird.
Später ist sie stiller Teil der Gruppe, in sich ruhend, eine zurückhaltende, in einer weichen Hülle von Einsamkeit geborgene Beobachterin dessen, was sich da um sie herum tut an Gesprächen, Gekicher, Blicke Tauschen und einander Anstupsen in der Hoffnung, ich würde irgendwie darauf reagieren.
Wenn ich ihr eine Frage stelle, ist ihr Nachdenken zuerst auf ihrem Gesicht zu sehen, bevor es hörbar wird. Dort leuchtet es auf, und erst dann wird die Antwort aus einer Tiefe geschöpft, die ihre eigenste ist, unbeirrt vom verhaltenen Spott der andern, behutsam, bedächtig.
In der hebräischen Bibel gibt es kein eigenes Wort für «langsam». Wer Zeit braucht und sich Zeit lässt, tut das mit einem räumlichen Mass: ein langer Weg liegt vor ihr und vor denen, die an ihm Teil haben wollen oder müssen.
Wer sich auf einen solchen Gott einlässt, braucht einen langen Atem. Und umgekehrt.
Wird uns auch nach Troste bange,
wenn das Herz oft rufen muss:
Ach, mein Gott, mein Gott, wie lange?
o so mache den Beschluss:
Sprich der Seele tröstlich zu
und gib Mut, Geduld und Ruh.
(Kirchengesangbuch Nr. 509)
Hansueli Hauenstein