Und er ging wieder weg und betete mit den gleichen Worten. Und als er zurückkam, fand er sie wieder schlafend, denn ihre Augen waren beschwert, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten. (Markus 14,40)
Die Szene in Gethsemane, in der Jesus betend um sein Schicksal ringt, während drei seiner engsten Begleiter dem Schlaf nicht wehren können, ist ebenso anschaulich wie berührend. Die Einsamkeit des Nazareners kurz vor dem Ziel seines Wirkens; seine verzweifelte Trauer; seine Bitte um göttliche Schonung und um den Beistand seiner Weggefährten; deren Flucht aus der Ratlosigkeit in den Schlaf und ihre Verstörung beim Erwachen: das ist tiefste Menschlichkeit in höchster Verdichtung.
Ja, es ist Verdichtung, nämlich Dichtung auch in seiner Form. Denn Jesus ist allein, als er betet. Mögliche Zeugen sind zurückgeblieben oder schlafen. Wer weiss also von den Worten, die er in seinem verlassenen Kummer spricht, und wer weiss von den Regungen seiner Freunde, der präzise geschilderten Beschwernis ihrer Augen, ihrer Sprachlosigkeit?
Die Antwort ist eindeutig: Es kann nur der Erzähler, die Erzählerin sein – das Ich, das sich in und hinter den Sätzen verbirgt, die wir zu lesen bekommen. Mit anderen Worten: Was uns hier begegnet, ist Ausdruck einer Erfahrung in der Gestalt von Sprache, ist Sprachschöpfung, ist Literatur.
Diese Einsicht steht quer zu jedem biblizistischen Fundamentalismus, und mehr noch: sie erlöst uns von dem seltsamen Zwang, Sprache – gerade auch religiöse Sprache – als eine Kopie von Wirklichkeit zu verstehen, wo sie doch viel mehr ist, nämlich deren Gestaltung im Modus des Erzählens.
Uns wird erzählt von Jesus Christ,
dass er als Mensch geboren ist.
(Kirchengesangbuch Nr. 425)
Hansueli Hauenstein