Wie wir in einem Leib viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Tätigkeit ausüben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, einzeln aber Glieder voneinander. (Römerbrief 12,4-5)
Paulus, der Handwerker, Schriftgelehrte und Briefeschreiber aus dem ersten Jahrhundert, macht sich Gedanken über den menschlichen Körper und darüber, was unsere vielen verschiedenen Körper miteinander zu tun haben könnten. Dabei entwirft er das Bild des Körpers als eines Organismus, in dem verschiedene Funktionen einander ergänzen.
Dieses Bild lässt sich erweitern: Jeder einzelne Mensch ist sozusagen ein Organ in einer Gemeinschaft, die dann selber einen «Körper» darstellt, einen sozialen Organismus. Paulus meint damit die christliche Gemeinde. Sie soll als Ganze das repräsentieren, was Paulus als «Christus» bezeichnet: das mit einem erlösten Leben beschenkte Menschsein.
Dieses Bild – so schön es ist – hat einen trüben Rand: In einer Gemeinschaft als «Körper» ist jeder einzelne Teil, jedes Individuum, vom Ganzen abhängig. So wie jedes Organ in seiner Form und Funktion vom Körper als Ganzem bestimmt ist, so jeder individuelle Körper von der sozialen Gemeinschaft, zu der er gehört.
Um sich zu veranschaulichen, was das heisst, genügt ein Blick auf gegenwärtige Körperideale: uniform gepolsterte, aufgespritzte, trainierte, tätowierte und frisierte Gestalten, die nichts anderes als die gerade aktuellen sozialen Normen spiegeln; von der Individualität, auf die wir uns so viel zugutehalten, keine Spur.
Das Bild der Gemeinschaft als Körper hat seine Tücken, nicht erst seit dem faschistischen Ideal des «Volkskörpers». Paulus muss das geahnt haben, denn er präzisiert seinen Gedanken in einer erstaunlichen Wendung: «Als einzelne sind wir Glieder voneinander». Kein christlicher Superkörper ist also angesagt, um Christus zu repräsentieren, sondern die wechselseitige Orientierung am je einzelnen Menschsein.
Komm, belebe alle Glieder,
du, der Kirche heilig Haupt;
treibe aus, was dir zuwider,
was uns deinen Segen raubt.
(Kirchengesangbuch Nr. 163)
Hansueli Hauenstein