Und der Ewige, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? (1. Mose 3,9)
Die erste ausdrückliche Frage der Bibel erreicht den Menschen im Paradies. Adam hört sie als Gottes Stimme und vernimmt darin die Erkundigung nach seinem Ort.
Das ist – folgt man der gängigen Dogmatik – seltsam. Denn wieso sollte ausgerechnet Gott, der Allwissende, eine solche Frage stellen? Dürfte man nicht voraussetzen, dass «er» genau weiss, wo sein Geschöpf sich gerade herumtreibt?
Nun sind Dogmatik und Erzählung zwei Paar Schuhe, und gerade die Geschichten der Bibel sperren sich häufig gegen dogmatische Vereinnahmungen. Auch hier, im Fall des göttlichen Fragens, geht es nicht um die Wesensbeschreibung eines unabhängig von uns existierenden «Gottes», sondern darum, einen Dialog in Gang zu bringen. Die Frage nach seinem Aufenthalt ermöglicht es dem Menschen, eine Antwort zu geben: «Ich habe mich versteckt».
Es ist dieses Verstecken, auf das die Frage abzielt – dieses menschliche sich aus dem Staub Machen, in der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben. Besser ich bleibe stumm, blind und taub, weiss von nichts und verschlaufe mich im Gebüsch. Werde ich dann doch entdeckt, bleibt mir immer noch die Flucht in die Diffamierung: «Die Frau, die du mir gegeben hast, sie ist schuld an meiner Verborgenheit».
Damit endet die paradiesische Zeit und der Weg in die Wirklichkeit beginnt. Für uns Adams und Evas ist das nicht leicht, denn dieser Weg führt uns zwar zu uns selbst, bedeutet aber auch Mühsal, Schmerz und Endlichkeit.
Und was die Dogmatik betrifft: Wie würde sie wohl aussehen, wenn die Geschichte umgekehrt verliefe? Und der Mensch rief den Ewigen, Gott, und sprach zu ihm: Wo bist du … ?
Aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Gott, höre meine Fragen.
(Kirchengesangbuch Nr. 85)
Hansueli Hauenstein