Glücklich, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. (Matthäus 5,8)
In Saint-Exupérys Erzählung vom Kleinen Prinzen belehrt der Fuchs den blondgelockten Buben von einem anderen Stern über das wahre Sehen: «Man sieht», sagt das weise Tier, «nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»
Das ist ein schöner Satz, und er eignet sich prächtig für Einträge in Poesiealben und als Sinnspruch auf Kalenderblättern. Trotzdem fürchte ich, dass es da manchmal etwas schnell geht mit dem Weg von den Augen zum Herzen.
Wenn Matthäus seinen Jesus davon reden lässt, dass Menschen unter bestimmten Voraussetzungen Gott «schauen» werden, würde der Fuchs das vielleicht dem reinen Herzen zuschreiben, das dann sozusagen an die Stelle ihrer Augen tritt. Davon ist im Text allerdings nicht die Rede, denn das Schauen ist hier die Folge des reinen Herzens, nicht dessen Fähigkeit.
Das Schauen Gottes ist im nachbiblischen, rabbinischen Judentum ein Privileg derer, die zu Lebzeiten dem Weg Gottes treu geblieben sind. In der neuen Welt, im Garten Eden, werden sie staunend und erschüttert Gottes Gegenwart mit ihren Augen erblicken. Einer der alten Rabbiner präzisierte, dass zum rechten Weg auch gehöre, die Augen vor dem Bösen und Schändlichen zu schliessen. Das würde dann gut zum reinen Herzen passen: Wer sich nicht am Anblick all des Widerlichen und Bösartigen weidet, von dem unsere bildversessene Welt voll ist, kann die Augen öffnen, wenn es darum geht, hinter diesen grotesken Fassaden das göttliche Dasein zu schauen.
Wie das zu denken wäre, beschreibt ein anderer alter Rabbi in einer kleinen Geschichte: «Ein König ging aus, um sich mit seinem Pächter im Garten zu ergehen. Aber jener Pächter hatte sich vor ihm versteckt. Der König sprach zu ihm: Was hast du, dass du dich vor mir versteckst? Siehe, ich bin wie du! – Ebenso wird sich Gott dereinst mit den Gerechten im Garten Eden ergehen, und die Gerechten werden ihn sehen und vor ihm erbeben. Und er wird zu ihnen sagen: Siehe, ich bin wie ihr!»
Vielleicht suchen wir das «Wesentliche» manchmal zu schnell mit dem Herzen, anstatt einfach die Augen aufzumachen.
Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
(Kirchengesangbuch Nr. 402)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer