Die Heuchler stellen sich beim Gebet gern an die Strassenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. (Matthäus 6,5)
Der Philosoph Immanuel Kant war berühmt für sein umfassendes Wissen und scharfsinniges Denken, aber auch für seinen Charme und Witz in geselliger Runde. Von letzterem ist in seinem theoretischen Werk oft wenig zu spüren. Manchmal scheint die Freude an der geistreichen Provokation aber doch durch, zum Beispiel in seiner Schrift «Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft».
Darin beschäftigt sich Kant auch mit dem Gebet, und zwar mit dem laut ausgesprochenen oder mit Gesten ausgedrückten, an dem andere ungewollt Anteil bekommen. Ihre Reaktion darauf ist für Kant bezeichnend: «Dass ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, dass er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe», stellt der Philosoph fest.
Nun sind öffentliche, als solche erkennbaren Gebete in unserem Kulturbereich selten geworden, sieht man vom kollektiven Gebet im Gottesdienst einmal ab. Weit verbreitet allerdings ist die Gepflogenheit, sich zum Beispiel als Fahrgast im Zug lauthals und oft auch gebärdend mit für andere unsichtbaren Dritten zu unterhalten, zu klagen, zu loben, zu flirten, zu schimpfen, um Verzeihung zu bitten und was der Gebetsformen mehr sind.
Kant ging davon aus, dass jemand, der oder die bei einem solchen Tun ertappt wird, «darüber in Verwirrung oder Verlegenheit, gleich als über einen Zustand, dessen er sich zu schämen habe, gerathen werde». Weit gefehlt. Kants Menschenfreundlichkeit an dieser Stelle ist berührend, das biblische Verständnis solchen Verhaltens als Heuchelei kommt der Sache aber wohl näher.
Herr, rede du allein
beim tiefsten Stillesein
zu mir im Dunkeln.
(Kirchengesangbuch Nr. 623)
Hansueli Hauenstein