Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen liessen. Von ungefähr aber ging ein Priester jenen Weg hinab, und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. (Lukas 10,31)
Die Frage, ob Empathie und Altruismus zur Grundausstattung von Menschen gehören, oder ob sie nicht vielmehr das Ergebnis einer mühsam erworbenen Moral sind, wird immer wieder heftig diskutiert.
Jesus nennt in seiner Kurzgeschichte Beispiele von Menschen, denen diese Grundausstattung offensichtlich fehlt: sie wechseln die Strassenseite. Diese Haltung ist also möglich, und zwar auch dann, wenn moralische Ansprüche denjenigen, die wegschauen, durchaus nicht fremd sind. Immerhin gehören die Ausweichler im Gleichnis dem klerikalen Stand an, und vielleicht ist das ja gerade das Entscheidende: die Einteilung von Menschen in Stände und Hierarchien mit ihren je eigenen Zuständigkeiten.
Was dabei vergessen geht: Die Wände zwischen diesen mit viel Aufwand aufrecht erhaltenen Fraktionen sind äusserst brüchig. Der antike Dichter Horaz hat das in einem seiner Sinnsprüche auf den Punkt gebracht: nam tua res agitur paries cum proximus ardet – um deine Sache geht es nämlich, wenn die Wand des Nachbarn brennt.
Wenn die Wände von Borniertheit und Ignoranz fallen, wird mir der Nachbar zum Nächsten, denn ich befinde mich im selben Feuer, auch in einem Land, wo Empathie und Altruismus gerne mit Moral verwechselt werden.
So jemand spricht: Ich liebe Gott,
und hasst doch seine Brüder,
der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
und reisst sie ganz darnieder.
(Kirchengesangbuch Nr. 798)
Hansueli Hauenstein