Warum verwirfst du meine Seele, verbirgst dein Angesicht vor mir?
(Psalm 88,15)
Manchmal hat der Traditionsabbruch, der in unseren Kirchen schon lange vor sich geht, auch sein Gutes. Ja, es stimmt, vielen Menschen in unserem Land – auch kirchlich orientierten – ist das fremd geworden, was während Jahrhunderten zum Sprach- und Wissensvorrat unserer christlich geprägten Kultur gehört hat.
Vielleicht am deutlichsten wird das im kirchlichen Unterricht. Kinder und Jugendliche können religiöse Inhalte kaum mehr mit der Überlieferung der Kirche in Zusammenhang bringen. Das kann man bedauern. Es schafft aber auch Raum für das eigene unbefangene und unvoreingenommene Wahrnehmen, Denken und Deuten.
In einem Gespräch über das Sterben versuchte eine Gruppe von Jugendlichen im Konfirmationsunterricht kürzlich der «Seele» auf die Spur zu kommen. Die kirchlich-traditionelle Vorstellung – ein innerer Teil des Menschen, der den Tod überdauert – blieb dabei völlig aussen vor. Stattdessen wurde die Seele als «Persönlichkeit» beschrieben, als «Wesen», als «Lebendigkeit», als das, was einen Menschen als Ganzen ausmacht oder als das Bild, das andere im Lauf seines Lebens mit ihm zusammen entwickeln.
Die «Seele» ist also (um es etwas hochtrabend zusagen), so etwas wie eine sozial vermittelte Vitalität. Damit haben diese jungen Menschen, ohne es zu ahnen, nahtlos den Anschluss an die biblische Welt gefunden. Denn dort ist die Seele eine Lebenskraft, die ihren Ort in einem verwundbaren Geflecht von Beziehungen hat. Offenbar wissen Jugendliche darüber sehr wohl etwas zu sagen.
Ja, hin zu Gott verzehrt sich meine Seele,
kehrt in Frieden ein.
(Kirchengesangbuch Nr. 707)
Hansueli Hauenstein