Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. (Matthäus 5,7)
Als einzige der Seligpreisungen hat die, die den Barmherzigen gilt, eine symmetrische Form. Wer Mitgefühl gegenüber anderen empfindet und entsprechend handelt, wird selber nicht leer ausgehen in Zeiten der Not.
Das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Einerseits zeigt es, dass das, was wir bei Matthäus lesen, ein literarisch durchkomponierter Text ist: Der spiegelbildliche Satz steht nämlich genau in der Mitte der neun Seligpreisungen und teilt diese so in zwei sich entsprechende Hälften. Das «denn» darin bildet sozusagen die Drehachse der ganzen Rede.
Wir sollten deshalb vorsichtig sein, wenn wir die Seligpreisungen direkt auf Jesus zurückführen wollen. Was wir lesen, ist spätere Dichtung, ein Echo auf das Wirken des Nazareners – eine Beobachtung die dem, was da steht, ein noch grösseres Gewicht gibt.
Die Symmetrie ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil sie nicht dem Muster eines «ich gebe, damit du gibst» entspricht. Wer Mitleid oder Erbarmen empfindet; wer sich vom Leid des Lebendigen berühren lässt; wer der Regung Raum gibt, die sich in uns und ohne unser Zutun in der Erfahrung eines fremden Schicksals eröffnet; und wer all dem durch eigenes Handeln Ausdruck gibt, erfährt umgekehrt selbst diese barmherzige Zuwendung.
Matthäus formuliert dies als schlichte Tatsache. Es ist so, nicht deshalb, weil ich mit meinem Erbarmen auf eine Gegenleistung schiele, sondern weil Barmherzigkeit im Kern schon wechselseitig ist. Sie ist der Angelpunkt im Verhältnis des Lebendigen zu anderem Leben.
Ach mache du mich Armen
zu dieser heilgen Zeit
aus Güte und Erbarmen,
Herr Jesu, selbst bereit.
(Kirchengesangbuch Nr. 364)
Hansueli Hauenstein