Jesus sagte zu ihm: «Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so werdet ihr nicht glauben.»
(Johannes 4,48)
Anhänger und Kritiker von Kirchen und Religionen haben einen fatalen Hang, die Erzählungen ihrer Traditionen für bare Münze zu nehmen. Damit verfehlen sie gerade das, was diese Überlieferungen im Kern ausmacht: ihr Wesen als Dichtung und Literatur.
Kürzlich hat mir ein intelligenter, gebildeter und gestandener Mann im Brustton der Selbstüberschätzung erklärt, an die Wundermärchen der Bibel könne er halt schon lange nicht mehr glauben. Ach ja? Abgesehen davon, dass hier schon das Verständnis von «Glauben» ziemlich schief ist – das Missverständnis des Charakters dieser «Märchen» ist es noch mehr.
Wunder und Wirklichkeit, Göttliches und Menschliches, Übernatürliches und Natürliches, Jenseitiges und Diesseitiges sind dichterische Kategorien im wahrsten Sinn des Wortes: sie verdichten menschliche Erfahrung, indem sie davon erzählen. Damit halten sie eine Distanz zur Realität aufrecht, wie es eine Reportage oder wissenschaftliche Studie niemals könnte. Sie erweitern Fakten um die Dimension der schöpferischen Phantasie.
Johannes hat das wie vielleicht kein zweiter der biblischen Erzähler gewusst. Sein Evangelium ist ein Feuerwerk an ironischer Distanzierung, wenn es darum geht, die Sucht nach Zeichen und Wundern ebenso an der Wirklichkeit zu messen, wie deren Kritik.
Gott, lass meine Augen
nicht nur sogenannte Tatsachen sehen,
sondern durch sie hindurch dich.
(Kirchengesangbuch Nr. 657)
Hansueli Hauenstein