Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl;
aber du weisst nicht, woher er kommt, noch wohin er geht.
So sind alle, die aus dem Geist geboren sind.
(Johannes 3,8)
In meinem Büro hängt so, dass ich es immer beim Arbeiten sehe, ein kleines Aquarell. Es zeigt einen Lorbeerzweig mit schwarzen und grünen Früchten. Darüber befindet sich eine Datierung: Camargue, Tour du Valat, 29-9-76, und daneben, in derselben Handschrift, ein kleiner Text, nämlich die letzte Strophe eines Gedichts des französischen Autors Antoine-Vincent Arnault (1766-1834).
Das Bild war vor vielen Jahren das Geschenk einer wunderbaren älteren Frau in Sempach, deren Grossherzigkeit, wache Frömmigkeit und geistige Freiheit mir seit der ersten Begegnung grossen Eindruck gemacht hatten. Die skizzenhafte Leichtigkeit und Sorgfalt ihrer Malerei sind für mich bis heute bildhaft dafür.
Das Gedicht, das behutsam neben dem Bild eingefügt ist, trägt den Titel «La feuille» und beschreibt die Reise eines Blattes, das vom sicheren Ast abgerissen und dann vom südlichen Wind über Berg und Tal davongetragen wird.
Die letzte Strophe lautet frei übersetzt: «Ich gehe, wohin der Wind mich trägt, / ohne mich zu beklagen oder zu fürchten. / Ich gehe, wohin alles geht, / das Blatt der Rose / und das Blatt des Lorbeers.»
So, denke ich jedes Mal, wenn ich mir Bild und Text vor Augen führe, müsste man leben können, mit aller Schönheit und Würde, ohne sich an das eine oder andere klammern zu müssen.
Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, / da dein Fuss gehen kann.
(Kirchengesangbuch Nr. 680)
Hansueli Hauenstein