Wenn jemand von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er die Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war! (Lukas 5,4-6)
Bin ich nun Schaf oder Hirte?
Eine lange Tradition der Gleichnisauslegung legt nahe, uns in dem verloren gegangenen Schaf wiederzufinden, das vom väterlich-fürsorglich-souveränen Hirten zurück zu ihm und zur Herde gebracht wird. Das verirrte Sündenkind findet heim in die verzeihenden Arme Gottes.
Abgesehen davon, dass ich nicht so sicher bin, ob ich das wirklich möchte: was ist eigentlich mit dem Hirten? Ohne sein Schaf hat er mindestens einen Teil dessen verloren, was ihn als Hirte auszeichnet. Und vielleicht ist es ja gerade dieser Verlust an eigener Fürsorglichkeit und Verantwortung, die ihm selber ein Gefühl der Verlorenheit gibt. Das würde dann auch die Freude erklären, die ihn erfüllt, als er seine Aufgabe wieder vollumfänglich wahrnehmen kann.
Manchmal denke ich, wir Menschen in der Schweiz seien ein Volk von Hirtinnen und Hirten, die verzweifelt nach dem suchen, was ihnen verloren gegangen ist: ein Gegenüber, das nicht ihrer abgeklärten Gleichgültigkeit und stoischen Unerschütterlichkeit bedarf, sondern ihrer Zuwendung und Zuneigung.
Die neunundneunzig Prozent Sicherheit hinter sich in der Wüste zu lassen und dem Leben nachzugehen, das uns wirklich braucht – wäre das nicht vielleicht ein Beitrag zur Behebung der traurigen Verlorenheit, die uns hierzulande so seltsam lähmt?
Gott und der Sünder, die sollen zu Freunden nun werden.
Friede und Freud wird uns verkündiget heut:
Freuet euch, Hirten und Herden.
(Kirchengesangbuch Nr. 404)
Hansueli Hauenstein