Unser Vater. (Matthäus 6,9)
Mein Vater starb, als ich ein kleiner Knirps war. Seither denke ich viel an ihn, auch wenn ich ihn nie vermisst habe. Die gerade viel gehörte Behauptung, Kinder bräuchten unbedingt beides, ein Mami und einen Papi (so die heute gängigen, seltsam verniedlichenden Standardbezeichnungen) halte ich für genau das: eine reine Behauptung.
Dass Jesus (oder Matthäus) im Gebet Gott als Vater anredet, kann ich nicht wirklich nachempfinden. Mir fehlt dafür die Erfahrung. Ich finde es aber interessant, wenn ich darüber nachdenke. Das Verhältnis eines Vaters zu seinen Kindern ist ein anderes als das der Mutter. Das hat mit Emotionen, Männlichkeit etc. wenig zu tun, sondern mit Biologie. Männer können keine Kinder gebären. Sie können sie nur adoptieren.
Jesus ist von seinem «Vater» in eindrücklichen Szenen adoptiert worden. Folgt man Matthäus, so spricht zweimal eine himmlische Stimme zu Jesus und nennt ihn «meinen geliebten Sohn». Es ist also sozusagen eine Wahlverwandtschaft, die da begründet wird. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn entsteht, weil der Vater sie will und weil der Sohn sie annimmt.
Denkt man das weiter, so sind solche Entscheidungen im Prinzip zwischen beliebigen Menschen möglich. Insofern könnte die Vater-Sohn-Beziehung ein Muster sein für jede Beziehung, in der ich für einen Menschen Verantwortung übernehme, zu ihm stehe und ihn begleite.
Gott seinerseits wird dadurch nicht auf die Rolle als Vater von Jesus reduziert. Er kann auch andere, ja beliebig viele Menschen als seine geliebten Söhne und Töchter annehmen. Deshalb kann er im Gebet ja auch kollektiv als «unser Vater» angeredet werden.
Und um das hier noch deutlich zu machen: diese Art des Vaterseins schliesst Mütterlichkeit selbstverständlich nicht aus.
Vater unser im Himmelreich,
der du uns alle heissest gleich
Geschwister sein und dich rufen an
und willst das Beten von uns han:
gib, dass nicht bet allein der Mund,
hilf, dass es geh von Herzensgrund.
(Kirchengesangbuch Nr. 287)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer