Unser Vater. (Matthäus 6,9)
Kann ich das Unservater allein beten, obschon ich ja nur einer bin? Eine seltsame Frage, denken Sie vielleicht. Aber nimmt man die Wörter ernst, setzt das «unser» am Anfang eigentlich eine ganze Gruppe von Menschen voraus.
Stellen Sie sich vor, Sie besuchen Ihre Mutter und begrüssen sie mit den Worten «Hallo, unsere Mutter, wie geht es dir denn?» Die Reaktion dürfte bestenfalls etwas erstaunt sein – es sei denn, Sie sprechen von sich selbst immer in der Mehrzahl, so wie es Majestäten früher getan haben; oder Sie sind gar nicht allein, sondern machen den Besuch zusammen mit Ihren Geschwistern und sprechen sozusagen stellvertretend für alle.
Beim Besuch wäre das vielleicht etwas schräg – im Gebet könnte es durchaus Sinn machen: Ich spreche das Unservater dann nicht nur für mich und aus mir selbst, sondern auch stellvertretend für andere.
Diese «anderen» können Menschen sein, die zum Beispiel denselben Gottesdienst besuchen und das Gebet deshalb tatsächlich gemeinsam sprechen.
Aber auch wenn ich mutterseelenallein bin, schliesse ich allein durch die Anrede andere mit ein: Menschen, mit denen ich verbunden bin, die mir lieb sind, um die ich trauere, die ich doof finde, die ich bewundere oder die mich andauernd ärgern.
Sie alle haben Platz in diesem «unser». Ja, noch mehr: indem ich das Gebet mit «unser Vater» beginne, stifte ich eine Gemeinschaft von Menschen, die mir allein durch mein Sprechen zu Geschwistern werden.
Und wen du kennest als dein Kind,
wo in der Welt zerstreut sie sind,
die halte fest zusammen!
(Kirchengesangbuch Nr. 503)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer