Vater unser – unser Vater. (Matthäus 6,9)
Das Gebet, das Jesus im Matthäus- und ähnlich im Lukasevangelium vor seiner Gefolgschaft spricht, ist Ausgangs- und Fluchtpunkt christlicher Frömmigkeit. In praktisch jedem Gottesdienst kommt es vor, wird es vor- und nachgebetet, manchmal laut, manchmal leise, manchmal mechanisch wirkend, manchmal holprig, gemurmelt oder in feierlicher Intonation.
Das ist eigentlich erstaunlich. Denn die Wörter und Bilder, die das Gebet enthält, sind alles andere als selbst-verständlich. Deshalb füllt die auslegende Literatur dazu auch Bibliotheken.
Heute und in den folgenden Wochen möchte ich diesen Wörtern und Bildern etwas nachgehen. Dabei geht es mir nicht um eine «Erklärung» (davon gibt es schon genug), sondern um ein paar rahmende Gedanken, die vielleicht da oder dort Anklang finden und zum Weiterdenken anregen.
Beginnen wir etwas schulmeisterlich mit der Grammatik. Die ans Griechische und Lateinische angelehnte Version der Anrede «Vater unser» ist schlicht kein ordentliches Deutsch. Trotzdem hält sie sich hartnäckig. Hängt das mit dem Formelcharakter des Gebets zusammen, das unabhängig von seinem Inhalt allein durch das «richtige» (nämlich überlieferte) Sprechen wirkt? Dann hätte das «Unservater» etwas von einem Zauberspruch – oder von Poesie, die ja gerade davon lebt, dass sie Sprachnormen ausser Kraft setzt.
Was, wenn Jesus (oder Matthäus oder Lukas) in erster Linie begabte Lyriker gewesen wären?
Gutes Denken, Tun und Dichten
musst du selbst in uns verrichten.
(Kirchengesangbuch Nr. 159)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer