Wie einen Traum nach dem Erwachen, Herr,
so verachtest du, wenn du aufwachst, ihr Bild.
(Psalm 73,20)
«Sie» – das sind in diesem Fall die Grossmäuler und Besserwisser und die, die immer einen Schleichweg finden, wenn es darum geht, die Regeln zu umgehen, die sie selber lauthals verkünden.
Für Gott seien sie kaum mehr als nächtliche Traum-Schaum-Bilder, die nach dem Erwachen alle Konturen verlieren – meint der Mensch, der sich hier an eben diesen Gott wendet.
Aus dem Kontext darf man schliessen, dass dabei Ressentiments keine geringe Rolle spielen, denn dem oder der Betenden geht es im Vergleich mit diesen flüchtigen, aber durchaus im Wohlstand lebenden Nachtschatten nicht gerade prächtig.
Das wäre aber ein eigenes Thema. Spannender finde ich für heute die Vorstellung, dass «Gott» erstens erwachen und zweitens träumen kann. Denn beides setzt ja den Schlaf voraus. Es bleibt also im Himmel nicht beim «Ruhen» am siebten Schöpfungstag. Gott kann einschlafen, von seinen seltsamen Geschöpfen träumen, aufwachen und deren Bilder dann verächtlich als Nachtgespenster belächeln.
Was möchte ich lieber sein: ein Bild in einem göttlichen Traum – oder doch eher ein einfacher Mensch, der sich wie Gott gerne im Schlaf verbirgt?
Sei die Nacht
auch auf der Wacht
und lass mich von deinen Scharen
um und um bewahren.
(Kirchengesangbuch Nr. 618)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer