Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mann, bin heilig in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns. (Hosea 11,8-9)
Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie «religiöse Gefühle», hat gerade wieder Konjunktur. Sie taucht regelmässig dann auf, wenn Menschen sich in ihrem «religiösen» Selbstverständnis verletzt fühlen oder wenn «religiöse» Sachverhalte, die ihnen wichtig sind, in Frage gestellt oder verunglimpft werden. Dies wird als Angriff auf «religiöse Gefühle» deklariert und mit dem Ruf nach Zensur in den verschiedensten Formen quittiert oder im Extremfall – und der ist jetzt wieder eingetreten – mit massiver Gewalt.
Nun sind «religiöse Gefühle» aber ebenso wie «religiöse Geographien» (Himmel und Hölle) oder «religiöse Naturwissenschaften» (Kreationismus) reine Fiktion im Dienst religiöser Zwecke. Sie kommen als Instrumente religiöser Ideologien immer dann ins Spiel, wenn die Argumente fehlen. Ihre angebliche Verletzung dient der Rechtfertigung von Empörung, Zorn und Gewalt. Darüber hinaus sind sie nichts als Schatten religiöser Verblendung.
Wenn «Gott» in einer bemerkenswerten Passage im Hoseabuch sagt, sein Mitleid siege über seinen Zorn, distanziert er sich damit zugleich von destruktiven menschlichen Gefühlsausbrüchen. Wäre er ein Mann, dessen religiöse Gefühle verletzt worden sind – und in seiner Göttlichkeit hätte er dafür gute Gründe – , käme er in der Hitze des Zorns. Dass er es nicht tut, spricht für «ihn», nicht für uns.
Du bist ein Geist der Liebe, ein Freund der Freundlichkeit,
willst nicht, dass uns betrübe Zorn, Zank, Hass, Neid und Streit.
Der Feindschaft Feind du bist, willst, dass durch Liebesflammen
sich wieder tu zusammen, was voller Zwietracht ist.
(Kirchengesangbuch Nr. 508)
Hansueli Hauenstein, Pfarrer