Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Lukas 12,49
Als der Mann aus Nazareth sein Leben verliert – als es ihm genommen wird – ist er vermutlich um die dreissig. Seine Erfahrung und Weltsicht sind, als er stirbt, die eines jungen Mannes. Was er uns zu sagen hat, seine Unrast, seine Ausfälligkeiten, seine masslose Hoffnung, seine eigene Poesie, auch sein Witz und sein Scharfsinn spiegeln das.
Kein sorgloses Kind, kein flotter Jüngling und kein abgeklärter Gelehrter begegnen uns in ihm, auch kein etablierter Karrierist, sondern ein energischer Dreissigjähriger, ein junges, starkes Leben, getränkt mit Zukunft. Seine Stimme fehlt uns heute in der Kirche, wo sich stattdessen häufig eine zeit- und belanglose Betulichkeit breit macht.
Sein Leben lang hat Max Frisch Tagebücher geschrieben. Die letzten Aufzeichnungen erschienen 2010, fast zwanzig Jahre nach seinem Tod. Was uns darin begegnet, ist die Erfahrung und Weltsicht eines alten Mannes. Seine Botschaft balanciert zwischen Leben und Tod, Poesie und Resignation und bäumt sich dazwischen auf in ohnmächtigem Zorn auf die bornierte Verlogenheit derer, die an sich und ihrer Welt keine Zweifel hegen.
Als Agnostiker hatte Frisch mit der Kirche wenig am Hut. Alles Betuliche und Etablierte lag ihm fern. Aber die Stimme des Nazareners, das Echo der Bergpredigt, klingt mit in der Sorgfalt, Verzweiflung und verhaltenen Kraft dessen, was der alte Mann uns zu sagen hat.
Wie sähen die Evangelien wohl aus, würden sie von einem Siebzigjährigen handeln?
Hansueli Hauenstein, Pfarrer